Die Zuschauer verhindern nicht den demütigenden Akt. Was lässt sie sich auch mit einem russischen Gefangenen ein, sie weiß doch, dass es verboten ist. Die Reinheit des deutschen Blutes muss gewahrt bleiben. Das hat sie nun davon! Wer sich mit dem Feind, einem russischen Untermenschen einlässt, hat es auch verdient bestraft zu werden. So haben die Menschen gedacht. Nur wenige Dorfbewohner missbilligten das Vorgehen gegen die Frau, aber sie schwiegen und wandten sich ab.
Am 21. Juni 1943 erscheint im Buxtehuder Tageblatt folgende Nachricht mit der Überschrift:
Ehrloses Verhalten einer Frau in Immenbeck
Eine Ehefrau wurde überführt, intimen Verkehr mit einem bolschewistischen Kriegsgefangenen, der auf dem Nachbarhof beschäftigt war, gehabt zu haben. Während die schamlose Frau ihr Verbrechen gleich eingestand, hat der Bolschewist sich zunächst herauszureden versucht. Die Frau wurde dem Bolschewisten gegenübergestellt. Nachdem ihr die Haare abgeschnitten waren, wurde sie abgeführt. Unsere nationalsozialistische Volksgemeinschaft ist aufgebaut auf den Gesetzen der Treue zum Volke, der Achtung des deutschen Blutes, der Ehre der deutschen Frau und Mutter. In solchen Fällen finden ehr- und schamlose Volksgenossen darum keine Gnade.
Die Geschichte spielt in dem kleinen Dorf Immenbeck. Es liegt oben auf dem Geestrand unter alten Eichenbäumen in der Nähe von Buxtehude, gehört aber zum Kirchspiel Elstorf. Wir schreiben das Jahr 1943. Zehn Jahre herrscht der Reichskanzler Adolf Hitler schon über Deutschland. Die Deutschen waren ihm willig gefolgt, auch in einen neuen Krieg. Schon vor 1933 fielen die nationalsozialistischen Gedanken in Immenbeck auf fruchtbaren Boden. Am 1. Oktober 1930 wurde die SA-Schar Immenbeck gegründet, später wurde aus ihr der SA-Sturm 37/428. Schnell gewann die NSDAP immer mehr die Zustimmung des Dorfes, was sich bei den Reichstagswahlen im November des Jahres 1933 zeigte. 100 % stimmten für Adolf Hitler. Mit diesem Erfolg durfte sich das Dorf offiziell „Hitlerdorf“ nennen (Buxtehuder Tageblatt vom 18.Dezember 1933).
Am Grauener Weg, in Immenbeck, wurde in den dreißger Jahren eine Baracke für den Reichsarbeitsdienst eingerichtet. Die Baracke diente nach Beginn des 2.Weltkrieges 1939 als Gefangenenlager. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Belgien, Frankreich und Serbien, kamen aus diesen Ländern Kriegsgefangene nach Immenbeck. Nach dem Überfall auf Russland (1942) wurde die Baracke nun mit russischen und polnischen Soldaten belegt, die aus dem Kriegsgefangenen-Stammlager Sandbostel (Stalag X) kamen (Anmerkung 1).
Sie wurden von dem Wachmann Groß aus Nienstetten/b. Hamburg bewacht. Er wohnte im alten Haus bei Bartmers. Die Gefangenen (Anmerkung 2) arbeiteten tagsüber auf den umliegenden Bauernhöfen. So auch Arkadij Kolesnikow, der durch den Mitgefangenen Stefan Anfang 1943 Frau Agnes Behr kennenlernte, Sie war die Ehefrau des Dorfschullehrers Otto Behr. Aus dieser Bekanntschaft entstand bald eine Liebschaft, die für beide unglücklich endete.
Frau Behr, welche kinderlos war, kümmerte sich um die kleinen Kinder der Nachbarn, während diese auf dem Hof, oder Feld, arbeiteten.
Ihr Mann engagierte sich nach seinem Dienst als Lehrer in der SA und war oft abends nicht zu Hause. Frau Behr fühlte sich vernachlässigt und fand in Arkadij den Mann, den sie sich wünschte. Viele Frauen erlebten in der Begegnung mit russischen Gefangenen genau das Gegenteil, was ihnen die NS-Propaganda einzutrichtern versuchte: Der Russe, als Untermensch. Arkadij entsprach gar nicht diesem Bild. Er war ein gebildeter, kultivierter Mann, Apotheker von Beruf und beherrschte ein wenig die deutsche Sprache.
Frau Behr gab seinem Liebeswerben nach und es kam zu sexuellen Handlungen.
Die Liebschaft dauerte einige Monate, bis die Nachbarbäuerin A. H., einen Liebesbrief entdeckte und beide zur Anzeige brachte. Warum sie die so beliebte Frau Behr im Dorf denunzierte bleibt im Dunkeln, vielleicht waren es persönliche Motive, vielleicht erhoffte sie sich Anerkennung durch die Partei, vielleicht meinte sie ihre nationalsozialistische Pflicht zu genügen.
Frau Behr wurde im Juni 1943 in das Gerichtsgefängnis nach Hannover gebracht. Das Urteil eines Sondergerichtes lautete 2 Jahre und 6 Monate Zuchthaus, dazu 3 Jahre Ehrenverlust. Die erste Zeit ihrer Strafe saß sie im Zuchthaus Anrath, bei Krefeld ab. Durch Eingaben ihrer schwangeren Schwester, deren Mann im Krieg war, erhielt Frau Behr Strafbeurlaubung, um ihrer Schwester auf dem Bauernhof zu helfen, bis eine geeignete Ersatzkraft gefunden wurde.
Dieses geschah im Februar 1945 und Frau Behr musste wieder ihre Gefängnisstrafe antreten. Da Anrath schon von den Alliierten besetzt war, wurde Frau Behr nach Lübeck ins dortige Gefängnis gebracht, wo sie im September 1945 entlassen wurde, da, so der Staatsanwalt in Hannover, „der Grund, der zur Verurteilung führte, jetzt gegenstandslos geworden war“. (Der Krieg endete schon am 8.Mai 1945)
Die Richter und Staatsanwälte des Sondergerichts konnten nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches in der neugegründeten Bundesrepublik ohne Probleme ihren Dienst fortsetzen, ohne für ihre unmenschlichen Taten zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Herr Behr musste sich von seiner Frau scheiden lassen, die NSDAP drängte ihn dazu, und er wurde nach Stelle versetzt. Frau Behr, die nach ihrer Haftentlassung auf Entschädigung klagte, heiratete noch einmal und fand in Uelzen eine neue Heimat.
Was aus Arkadij Kolesnikow nach seiner Verhaftung wurde, weiß man nicht, aber man kann davon ausgehen, dass er hingerichtet wurde.
1)
In Sandbostel, südlich von Bremervörde hatte die Wehrmacht ein großes Gefangenenlager eingerichtet. Von dort aus wurden die Gefangenen zu Arbeiten in der Umgebung verteilt.
2)
Gutshof Bartmer | 10 Gefangene |
Heinrich Holst (Orns Hof) | 2 Gefangene |
Oelkers | 2 Gefangene |
Cohrs | 1 Gefangener |
Siegmund | 1 Gefangener |
Johannsen | 2 Gefangene |
Stoffers | 2 Gefangene |
. Stadtarchiv Buxtehude (Buxtehuder Tageblatt 21.6.1943 auf Micro-Film)
- Hauptstaatsarchiv Hannover (Hann. 171 A Hannover 107/83 Nr. 303)
- Zeitzeugen aus Immenbeck
- Fotoarchiv Pintatis
- Kirchenarchiv Elstorf: Bericht zum Tode eines russischen Gefangenen. Von Alwine Cohrs, Witwe des
damaligen Ortsbauernführers
Urheberrechte liegen bei Dieter Pintatis, Autor und Herausgeber, Elstorf 2015